Geschichte von Odersbach


 Stadtteil Odersbach Zeichnung: D. Boger, Weilburg
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Allgemeines und Geschichtliches über Odersbach bei


Artikel in "DER SPIEGEL" über Odersbach

In der Ausgabe des Magazin „DER SPIEGEL“ vom 28. Mai 1958 war der Artikel „Volksbefragung – Der Artomkram“ erschienen.

Titelblatt des Spiegel vom 28. Mai 1958
Titelblatt des Spiegel vom 28. Mai 1958

VOLKSBEFRAGUNG

 

Der Atomkram

 

Wenn es der Nato-Generalstab eines Tages für tunlich halten sollte, in der Gemarkung des hessischen Dorfes Odersbach Abschußvorrichtungen für Atomgeschosse aufzubauen, wird er sich rechtzeitig auf eine geharnischte Auseinandersetzung mit den Stammgäste der Wirtschaft Otto Schneider in Odersbach, Weilburger Straße, einrichten müssen.

 

Otto Schneiders Gasthaus in Odersbach ist das Parteilokal der SPD. Dort wurde die Idee geboren, deren Verwirklichung letzte Woche in der bundesdeutschen Öffentlichkeit einiges Aufsehen erregte. Während die Regierungsjuristen in Bonn, Hamburg, Bremen und Wiesbaden noch über ihren Volksbefragungsgutachten brüteten, faßte der aus acht SPD-Mitgliedern und einem BHE-Mann bestehende Odersbacher Gemeinderat am 25. April einen Beschluß von immerhin beträchtlichem Anspruch: "Wir machen eine Volksbefragung über den Atomtod, und zwar gleich."

 

Odersbach, das 1013 Einwohner zählt, ist ein Arbeiterdorf. Es verfügt mangels einer Kirche über keinen Turm und wird täglich außer vom Rundfunk von 160 Stücken des "Weilburger Tageblattes" und einem runden Dutzend Exemplaren der "Limburger Neuen Presse" und der "Frankfurter Rundschau" erreicht. Nur ganze fünf Einwohner ernähren sich vom eigenen Acker. Die meisten anderen arbeiten in nahegelegenen Industrieorten.

 

Was immer man von Art und Umfang der politischen Unterrichtung in Odersbach halten mag, unverkennbar ist, daß die Schädlichkeit des Umgangs mit Atomwaffen allen seinen Gemeinderatsmitgliedern evident war. So sah denn auch der einzige Oppositionelle im Gemeinderat, BHE-Vertreter Alois Stein, keine Veranlassung, die Fahne der von der Bundesregierung propagierten Atomrüstung sozusagen im Alleingang hochzuhalten. Auch er stimmte dafür, die Bürger von Odersbach nach ihrer Meinung über Atomwaffen zu befragen.

 

"Schließlich wußten wir ja seit der Bundestagsdebatte im März, was gespielt wird", meint SPD-Bürgermeister Karl Hoin. "Da hieß es handeln. Und wir haben uns gesagt: Wir machen es schnell und ohne viel Getöse, dann sind wir fertig, ehe es die anderen überhaupt gemerkt haben."

 

In seinem Amtszimmer im ersten Stock des Rathauses, das im Parterre noch die Freiwillige Feuerwehr beherbergt, schrieb Karl Hoin die Namen seiner 693 wahlberechtigten Untertanen auf mehrere Listen und ließ hinter jedem Namen einen Platz für die Unterschrift frei. "Bei den Volksbegehren zur Neugliederung der Bundesländer-Grenzen müssen sich die Wahlberechtigten schließlich auch mit Namen und Adresse in offenen Listen eintragen", verteidigte Hoin sein vereinfachtes Verfahren.

 

SPD-Mitglied Lehrer Ernst Schermuly verfaßte einen Aufruf des Gemeinderats, dem er ebenfalls angehört, an die "lieben Mitbürger". "In den nächsten Tagen", hieß es darin, "wird man Sie aufsuchen und Ihnen folgenden Text vorlegen: 'Wir, die unterzeichneten wahlberechtigten Bürger der Gemeinde Odersbach, lehnen eine atomare Ausrüstung der Bundeswehr ab. Wir ermächtigen die kommunalen Vertretungskörperschaften, alles zu tun, um eine Lagerung und Stationierung von Atomwaffen oder atomarem Gerät in der Gemarkung der Gemeinde Odersbach zu verhindern'."

 

An dieser Stelle seines Flugblattes kam dem Lehrer Schermuly offenkundig der Gedanke, die Bürger von Odersbach könnten sich für Fragen der Atomrüstung nicht ganz kompetent halten. Er redete ihnen darum ins Gewissen: "Vielleicht werden Sie sich fragen, was soll das alles, und denken, wir kleinen Leute können die Atomrüstung der Bundeswehr ja doch nicht verhindern. Das sind Fragen der großen Politik! Nein, liebe Bürger, ganz so ist es nicht. Wir wollen der Bundesregierung und dem Parlament sehr eindeutig sagen, daß wir uns in den Teufelskreis einer atomaren Aufrüstung nicht stillschweigend einreihen lassen."

 

Acht Tage lang lagen die Befragungslisten auf dem Rathaus zur Einsichtnahme für jedermann aus. Am Samstag, 3. Mai, wurde der Startschuß zur Befragungsaktion

 

gegeben. An diesem Tage machten sich rund zehn Prozent der wahlberechtigten Odersbacher Bürger auf den Weg zum Rathaus, um dort ihre Unterschrift hinter ihren Namen zu setzen.

 

Mit Recht unbefriedigt von der enttäuschend laschen Atom-Wachsamkeit ihrer Mitbürger, beschlossen die Gemeindevertreter eine wirksamere Gewissensattacke. Je zwei Mann rüsteten sich mit einer Liste aus und zogen damit von Haus zu Haus: "Ihr habt doch unseren Aufruf bekommen. Hier ist die Liste."

 

Bei den Bundestagswahlen des letzten Jahres hatten in Odersbach die SPD 404, der BHE 55, die CDU 76, die Deutsche Partei sechs, die Freie Demokratische Partei 29 und die DRP 10 Stimmen eingeheimst. Am Abend des 4. Mai hatten 629 von den 694 wahlberechtigten Odersbacher Bürgern (90 Prozent) die Atombefragungsliste unterschrieben. 40 hatten eine Unterschrift abgelehnt, und 25 waren - meist wegen Abwesenheit - nicht befragt worden. Versichert Bürgermeister Hoin treuherzig: "Wir brauchten niemand unter Druck zu setzen."

 

In den in der Nähe gelegenen Gemeinden Niederhausen (Gemeinderat: fünf SPD, ein BHE, drei "Freie Wählergruppe") und Blessenbach (Gemeinderat: sieben SPD, zwei BHE), die mit Odersbach um die Wette abstimmten, hatten 93,5 Prozent (Niederhausen) und 93,9 Prozent (Blessenbach) die Atomrüstung "kategorisch abgelehnt".

 

Resümiert Bürgermeister Hoin: "Selbst die Bauern haben fast alle ihre Unterschrift gegeben. Sie schimpfen schon seit langem auf das Wetter und sagen: Die sollen aufhören mit dem Atomkram, dann wird auch das Wetter besser."

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DER SPIEGEL 22/1958
Augsabe des Magazin "DER SPIEGEL" Nr. 22/1958 vom 28. Mai 1958, Originalseiten mit einem Bereicht über Odersbach.
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